Predigt im ökumenischen Seefahrergottesdienst in Hamburg, am 15.6.2019

So kam er auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mir gesalbt. Er hat mir gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört hab, erfüllt. (Lk 4:16–20)

Erfahren

Regelmäßige Abendandachten gehörten in den 1980er Jahren zu den Routinen der Finnischen Seemannskirche in Rotterdam. Es war jedem leicht gemacht, der Andacht fernzubleiben, aber wenn ich hoch in unsere Kapelle ging, ertönten bald schwere Schritte im Treppenhaus. Die Seeleute folgten mir.

Unvergessen das eine Mal, als einer während der Andacht protestierte und unterbrach. Ein Matrose eines Tankers war leicht angetrunken und fragte plötzlich mit lauter Stimme: ”War der Herr Pastor denn schon mal auf hoher See, in einem ordentlichen Sturm?” Oder anders gesagt: Weißt du eigentlich, zu wem du sprichst? Verstehst du überhaupt, wie es auf der Nordsee im Winter ist? Und was es bedeutet, diese kurzen Strecken zwischen Sullom Voe und dem Festland hin- und herzupendeln? Die ganze Zeit kommt man in irgendeinem Hafen an, das Wachsystem geht durcheinander und die Ruhezeiten sind nicht einhaltbar, obwohl sie bitter nötig wären, um sich von den Strapazen des Sturms zu erholen? Und wie es sich anfühlt, wenn man die ganze Zeit leicht angespannt und zwischendurch von Angst erfüllt ist?

Heute würde ich sicher mehr über diese weiterführenden Fragen nachdenken, würde bedächtiger antworten und genauer zuhören. Damals antwortete ich aber: „Ja, in so einem Sturm war ich schon mal. Ein wenig verstehe ich von eurer Lebensrealität, wenn auch nur ein wenig.“

Als ich mit meiner Familie nach Rotterdam zog, um dort als Seemannspastor zu arbeiten, geschah die Reise – natürlich – auf einem Frachtschiff. Bald nach Brunsbüttel zog ein furchtbarer Sturm auf, in dem das Schiff einfach nicht vorwärtskam. Im Logbuch stand für die nächsten 24 Stunden: ”Windstärke/Bft 11–12, starkes Rollen und Stampfen.” Einige Jahre später fragte ein Mitarbeiter der Reederei den bald in Rente gehenden Kapitän, ob er während seiner Laufbahn mal in einer richtig kritischen Situation gewesen sei. ”Schon. Vor einigen Jahren – damals, als der Rotterdamer Seemannspastor mit Familie an Bord war. Da hatte ich zeitweise das Gefühl, das schaffen wir nicht.”

Ich konnte also wahrheitsgetreu und bejahend antworten, als ich gefragt wurde: ”War der Herr Pastor denn schon mal auf hoher See, in einem ordentlichen Sturm?” Aber das Vergleichen von Erfahrungen ist hier nicht das Entscheidende, auch nicht das Wetteifern mit diesen Erfahrungen. Es geht darum, ob wir eine gemeinsame Lebensrealität teilen. Es geht darum, ob wir einander wahrnehmen und hören. Und auch darum – und vor allem darum – ob der christliche Glaube sich an solch ein Leben festmacht, an dieses wahre und alltägliche Leben, oder ob er eine davon getrennte Bedeutungswelt (TAI: Ausdruckswelt) lebt.

Einladen

Als Jesus in Nazareth aus dem Buch Jesaja las, hatte er gerade mit seinem öffentlichen Wirken begonnen. Das, was er las, war sein Programm. Seine Mission war, den Armen die gute Botschaft, den Gefangenen die Befreiung, den Blinden das Sehvermögen und den Zerschlagenen die Freiheit zu verkünden. Gleichzeitig wurde auch die Mission der Kirche verfasst. Jesus zitiert Jesaja: ”Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat.” Wir befinden uns am Ende der Pfingstwoche; Pfingsten wird allgemein auch als Geburtstag der Kirche angesehen. An Pfingsten bekam die christliche Kirche ihre Aufgabe, die Mission Jesu fortzusetzen, und ihre Kraft – die Kraft des Heiligen Geistes – sie auch zu umzusetzen. ”Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat”, passt auch als Botschaft der Kirche und nicht nur in den Mund ihres Herren Jesus Christus.

Was das Programm Jesu in der Praxis bedeutet, wird aus den Erzählungen zu seinem Wirken ersichtlich. Immer erneut wiederholt sich die gleiche Formel: Jesus begegnet einem Menschen, der aus welchem Grund auch immer ins Abseits geraten, getrennt ist, und er bringt ihn zurück zu den anderen, in Gemeinschaft zu ihnen. Es scheint, dass es Jesus nicht sonderlich interessiert hat, warum jemand im Abseits war. Manche waren dort, weil sie das Vertrauen zu ihren Lieben in Ehe oder Familie gebrochen hatten; andere, weil sie als Zöllner ihre Macht falsch genutzt hatten oder gierig waren. In Jesu Augen entsprach die eigene Schuld der Schuld anderer: Ehebrecher und Publikaner waren keineswegs in einer schlechteren Position als diejenigen, die von anderen ihres Geschlechts oder Glaubens, ihrer Nationalität oder Krankheit wegen geächtet wurden. Für Jesus war jeder Mensch in erster Linie und schlussendlich einfach Mensch. Im Buch Jesaja werden als Beispiele Arme, Gefangene, Blinde und Zerschlagene, also Ausgestoßene, genannt. Im Leben kommt uns noch vieles mehr entgegen, was uns daran hindert ein erfülltes Leben mit und unter anderen Menschen zu leben.

Seeleute gehören in dieser Beziehung zu der Gruppe der Gefährdeten. Es ist kein Geheimnis, dass oft versucht wird, Kosten auf Kosten der Seeleute zu drücken. Gehälter und Arbeitsbedingungen können sichtbar und offen schlecht sein, oder sie sehen auf dem Papier gut aus, doch die Realität entspricht diesem nicht. Kein Wunder, dass in den USA The Seamen’s Church Institute das Center for Seafarers’ Rights unterhält, um für die Rechte von Seeleuten einzustehen; oder dass die International Transport Workers‘ Federation ein essentieller Kooperationspartner der Seemannsmissionen ist – oder dass die Blockhaussauna im Garten der Finnischen Seemannskirche in Rotterdam von der Finnischen Seemannsunion geschenkt und von Seeleuten errichtet wurde. Es ist mir kein Anliegen die Schifffahrtsindustrie zu beschuldigen oder anzuprangern, denn letztendlich geht es darum, zusammen die faulen Äpfel auszusortieren, die das Ansehen der anderen und der Industrie als Ganzes beschmutzen.

Begegnen

Im Mittelpunkt muss stehen, dass der Mensch als Mensch wahrgenommen, und dem Menschen in die Gemeinschaft mit anderen Menschen geholfen wird. Ein finnischer Seefahrer sagte einst, dass die Mitarbeiter der Seemannsmissionen die einzigen im Hafen sind, die für ihn und nicht für das Schiff da sind: jeder und jede möchte als das, was er oder sie ist, wahrgenommen werden; in seinem oder ihrem Sein als solches. Der Mensch ist nicht gleiche seine Arbeit, man kann ihn nicht nur über seinen Beruf definieren. Er ist geschaffen für Gemeinschaft und Interaktion – sowohl mit anderen Menschen als auch mit Gott.

Und daher, wenn Menschen einander begegnen – auch auf Schiffen, in Häfen oder in den Seemannsmissionen – laden sie einander in ein gemeinsames Menschsein ein, in die von Gott gemeinte Form des Lebend. Und weil Menschsein nicht nur die Berufung des Menschen ist, sondern auch sein Glück und seine Freude, befreien sie sich gegenseitig in eine freie, entspannte und bedingungslose Menschlichkeit.

”Begegnung” – das Wort und der Gedanke sind in allerlei Kontexten bis zur Ohnmacht wiederholt worden; zu Tode romantisiert und idealisiert. Aber vielleicht nur deshalb, weil Begegnen so elementar ist! Uns ist einfach keine neue Formulierung eingefallen, wie man dies noch einmal anders oder besser ausdrücken, verstehen, verbalisieren oder teilen könnte.

Folgen

”War der Herr Pastor denn schon mal auf hoher See, in einem ordentlichen Sturm?” So lange die Seemannsmissionen Seeleute auf Augenhöhe begegnen und mit ihnen eine gemeinsame Realität teilen, so lange setzen sie die Mission Jesu im Geiste der Pfingstbotschaft fort. Dereinst schrieb ich über die Arbeit der Seemannsmission folgendermaßen – und kann mich dieser Worte auch heute noch nicht schämen: ”Den Menschen mit einem Geist zu begegnen, dass man ihn achtet, seine Unantastbarkeit ehrt und ihn als Mensch erkennt und anerkennt, das ist Begegnung im Heiligen Geist.”

Das Leben ist zum Teilen bestimmt. Unsere Berufung ist eine Welt zu gestalten, in der man teilt und vertraut. Die, die dazu die Möglichkeiten haben, müssen andere dabei unterstützen und tragen; so machte es ja auch Jesus, der in der Synagoge zu Nazareth sein Programm denen vorlegte, die damals zugegen waren, und denjenigen als Vorbild mitgab, die in seiner Nachfolge leben.

Ich kann mich auch noch gut an eine andere Abendandacht erinnern. Ich hatte Gedanken aus Bonhoeffers Widerstand und Ergebung zitiert und meines Erachtens eine ganz gute Rede gehalten. Hinterher brachte ich einige Seeleute zurück zum 30 Kilometer entfernten Europoort. Als wir ankamen, es war schon fast 23 Uhr, wurde ich noch an Bord gebeten. Der Erfahrung nach wusste ich, dass man so einer Einladung folgt, so ging ich mit. Da saßen wir nun in der Mannschaftsmesse eines Tankers. Mir wurde ein Campari serviert und der Matrose eröffnete das Gespräch: ”Hei, du hast in deiner Andacht den Gedanken auf diese Weise hervorgebracht, aber beschreibt Bonhoeffer ihn nicht in der Nachfolge ganz anders?”

Ganz so, als hätte man mich gefragt: ”Hat der Herr Pastor sich nicht genügend ins Theologische vertieft?” Eine gute Frage – vor allem, weil man sie auch ausführen kann: Was ist wirklich von Bedeutung? Worum geht es in letzter Hand? Finden sich Gottes Spuren in unserer Welt? Wie folgt man Jesus – und warum und wohin?

Jedenfalls ist unsere Mission dieselbe: ”Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkünden das Gnadenjahr des Herrn.”